Rechtswidrigkeit einer Hinzuschätzung aufgrund der sog. Richtsatzsammlung

Ist die Kassenbuchführung in einem bargeldintensiven Betrieb wie
z.B. einer Diskothek fehlerhaft, ist das Finanzamt dem Grunde nach zu einer
Hinzuschätzung berechtigt. Die Schätzung darf aber nicht ohne Weiteres auf die
sog. Richtsatzsammlung der Finanzverwaltung gestützt werden, weil die
Richtsatzsammlung Mängel aufweist. Vorrangig ist vielmehr eine Schätzung
aufgrund eines inneren Betriebsvergleichs, d.h. aufgrund einer
Nachkalkulation.

Hintergrund: Ist die Buchführung
nicht ordnungsgemäß, kann der Gewinn geschätzt werden. Zu den üblichen
Schätzungsmethoden gehören der sog. innere Betriebsvergleich, bei dem anhand
des Wareneinsatzes eine Nachkalkulation durchgeführt wird, sowie der äußere
Betriebsvergleich, bei dem der Betrieb des Steuerpflichtigen mit anderen
Betrieben aus derselben Branche verglichen wird und die Gewinnaufschlagsätze
anderer Unternehmer derselben Branche herangezogen werden. Diese Richtsätze
werden in einer Richtsatzsammlung dokumentiert, die von der Finanzverwaltung
herausgegeben wird.

Sachverhalt: Der Kläger betrieb
in den Streitjahren 2013 und 2014 in Hamburg eine Diskothek und ermittelte
seinen Gewinn durch Bilanzierung. Im Rahmen einer Außenprüfung stellte der
Prüfer Mängel in der Kassenbuchführung fest, da der Kläger keine
Einzelaufzeichnungen vorlegen konnte. Der Prüfer führte eine Nachkalkulation
für die Getränkeumsätze durch und gelangte zu der Auffassung, dass der Kläger
nur ca. 42 % des möglichen Umsatzes erklärt habe. Der Außenprüfer schätzte
daher Umsätze bei den Getränkeverkäufen hinzu und legte dabei einen
Rohgewinnaufschlagsatz von 554 % zu Grunde. Das Finanzgericht (FG) ersetzte die
Schätzung des Prüfers durch eine eigene und setzte – auf Grundlage der
Richtsatzsammlung der Finanzverwaltung, die Rohgewinnaufschläge für Gast-,
Speise- und Schankwirtschaften zwischen 186 % und 400 % (2013) bzw. zwischen
186 % und 376 % (2014) veröffentlicht hatte, einen Rohgewinnaufschlag von 300 %
an. Der Fall kam – nach einer ersten Zurückverweisung durch den
Bundesfinanzhof (BFH) an das FG wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör – erneut zum BFH.

Entscheidung: Der BFH bejahte
zwar eine Schätzungsbefugnis des Finanzamts dem Grunde nach, hielt eine
Schätzung aufgrund der Rohgewinnaufschläge der Richtsatzsammlung aber für
rechtswidrig und verwies den Fall daher erneut an das FG zurück:

  • Eine Schätzungsbefugnis war zu bejahen, da die
    Kassensturzfähigkeit fehlte; denn der Kläger hatte bis zu fünf offene
    Ladenkassen verwendet, aber nicht die erforderlichen Kassenaufzeichnungen
    gefertigt. Damit konnte der jeweilige Ist-Kassenbestand, der mittels Auszählung
    ermittelt wurde, nicht anhand der (unvollständigen) Kassenaufzeichnungen
    überprüft werden. Dieser formelle Mangel war gravierend, weil in der Diskothek
    überwiegend Bargeschäfte getätigt wurden.

  • Die Schätzung ist jedoch der Höhe nach rechtswidrig. Zwar ist
    das Finanzamt grundsätzlich in der Wahl der Schätzungsmethode frei, wenn
    mehrere Schätzungsmethoden gleich geeignet sind. Gibt es aber eine besser
    geeignete Schätzungsmethode, muss das Finanzamt diese Methode anwenden.

  • Grundsätzlich ist ein innerer Betriebsvergleich geeigneter als
    ein äußerer Betriebsvergleich, weil beim inneren Betriebsvergleich die
    konkreten Betriebsverhältnisse des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden;
    beim äußeren Betriebsvergleich lässt sich hingegen nicht ohne Weiteres ein
    anderer Betrieb finden, der dem Betrieb des Steuerpflichtigen bezüglich der
    Betriebsgröße, Lage, Organisation und Kundenstamm sowie der Branche gleicht.
    Das Finanzamt muss zudem sein Schätzungsergebnis begründen.

  • Im Streitfall hat das FG zu Unrecht die Richtsatzsammlung
    herangezogen, anstatt die Schätzung auf eine Nachkalkulation zu stützen. Die
    Richtsatzsammlung enthält nämlich keine
    Vergleichswerte
    (Rohgewinnaufschlagsätze)
    für Diskotheken, sondern nur für Gast-,
    Speise- und Schankwirtschaften. Eine Diskothek ist hiermit aber nicht
    vergleichbar, weil in einer Diskothek keine Speisen angeboten werden und weil
    es keinen Verzehrzwang gibt. Im Übrigen gibt es weitere Mängel der
    Richtsatzsammlung (s. Hinweise unten).

Hinweise: Der BFH hat die Sache daher erneut an das FG
zurückverwiesen, so dass der Fall nun zum dritten Mal vor dem Finanzgericht
verhandelt wird.

Der BFH hat weitere erhebliche Bedenken gegen die Richtsatzsammlung
geäußert, die der Finanzverwaltung die Anwendung der Richtsatzsammlung künftig
erschweren dürfte:

  • So gehen nur die Werte von Betrieben ein, bei denen eine
    Außenprüfung durchgeführt worden ist. Dies ist jedoch keine statistisch
    zuverlässige und repräsentative Zufallsauswahl; denn die Umsatz- und
    Gewinnzahlen der Betriebe, die nicht durch eine Außenprüfung geprüft worden
    sind, bleiben unberücksichtigt.

  • Außerdem gehen die Zahlen von Verlustbetrieben nicht in die
    Richtsatzsammlung ein. Dabei bleiben ohnehin bereits jeweils 10 % der Betriebe
    mit den höchsten und niedrigsten Rohgewinnaufschlagsätzen außer Betracht.
    Sollte die Finanzverwaltung Betriebe mit Anlaufverlusten nicht berücksichtigen
    wollen, wäre es konsequent, auch Betriebe mit Anlaufgewinnen außer Ansatz zu
    lassen.

  • Schließlich setzt die Anwendung der Richtsatzsammlung voraus,
    dass die Anwendung des jeweiligen Aufschlagsatzes nachvollziehbar begründet
    wird. Denn die Richtsatzsammlung enthält mitunter sehr weite Spannen, z.B. für
    Hotelbetriebe zwischen 285 % und 1900 %, für Bestattungsunternehmen zwischen
    194 % und 1011 %, für Cafes zwischen 186 % und 525 % und für Restaurants
    zwischen 178 % und 446 % (Richtsatzsammlung 2023).

Quelle: BFH, Urteil vom 18.6.2025 – X R 19/21; NWB